Die EU im Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse?
Eine neue EU-Richtlinie erweitert die Rechte von Millionen Beschäftigten mit atypischen Arbeitsverträgen.
Von Veronika Bohrn Mena
Über ein Drittel der europäischen Erwerbstätigen arbeitet inzwischen in „atypischen“ Beschäftigungsformen, haben also Jobs, die ihnen keine oder weniger Rechte, Schutz, Sicherheit und Mindestgehälter bieten. Trotz dieses hohen Anteils ist die Tendenz immer noch steigend. In einigen Ländern sind manche dieser Jobs sogar schon zum dominanten Arbeitsmodell, also bereits „normal“ geworden. So arbeiten in den Niederlanden beispielweise ganze 62 Prozent der Erwerbstätigen nur noch in Teilzeitjobs, in Italien gehört Scheinselbstständigkeit zur Tagesordnung und in Polen haben sich sogar sogenannte „Auftragsverträge“ etabliert, die nicht dem Arbeitsrecht unterliegen. Das hat zur Folge, dass 20 Prozent der Beschäftigten in Polen kein Recht auf Mindestlöhne und Urlaub haben, keine Höchstarbeitszeit für sie gilt, wodurch ihnen auch keine Überstundenzulagen bezahlt werden müssen und eine immer größere Zahl von Beschäftigten nicht sozialversichert ist.
Die Konsequenzen dieser Jobs zweiter Klasse sind für die Beschäftigten bitter. Ihre Einkommen liegen in der Regel unter dem Durchschnitt, betroffen sind davon vor allem Menschen mit Migrationsgeschichte und Frauen, nur im Bereich der Scheinselbstständigkeit sind Männer noch in der Mehrzahl. Ihr Arbeitsalltag ist vor allem durch Unsicherheit gekennzeichnet. Sie müssen häufig von einem Job zum anderen wechseln, unterliegen einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko und haben entsprechend unregelmäßige Einkommen. Eine Zukunft in der Altersarmut ist für sie vorprogrammiert. Den Gewerkschaften wird es schwergemacht, denn ihre Vertretungsrechte sind für „atypisch Beschäftigte“ oftmals rechtlich eingeschränkt.
In vielen Ländern ist der Druck auf Arbeitslose so erhöht worden, eine atypische und häufig prekäre Beschäftigung aufzunehmen, dass sich die Zahl der von Armut bedrohten oder betroffenen Menschen von 114 Millionen auf 124 Millionen erhöht hat.
Jedoch trifft der Trend zur Deregulierung der Arbeitsmärkte nicht nur die prekär Beschäftigten selbst, zwischen 2008 und 2013 hat sich auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen auf EU-Ebene verdoppelt. In vielen Ländern ist der Druck auf Arbeitslose so erhöht worden, eine atypische und häufig prekäre Beschäftigung aufzunehmen, dass sich die Zahl der von Armut bedrohten oder betroffenen Menschen von 114 Millionen auf 124 Millionen erhöht hat. Ein erheblicher Teil des europäischen Arbeitsmarktes spaltet sich zunehmend in zwei Hälften mit sinkenden Anteilen von Beschäftigung in der Mitte der Verteilung. Das befeuert auch die gesellschaftliche Ungleichheit massiv und treibt einen Keil zwischen die Menschen, was sich auch in den Wahlergebnissen zunehmend abzeichnet.
Ein Schritt in die richtige Richtung
Die Europäische Kommission reagiert nun auf den gefährlichen Trend zur Prekarisierung und hat sich spät aber doch die Förderung sicherer und verlässlicher Arbeitsbedingungen zum Ziel gesetzt. Damit wird sie das Problem der prekären Beschäftigung in Europa zwar nicht lösen, aber die EU-Kommission bewegt sich damit zumindest erstmals nach 20 Jahren der Deregulierung der Arbeitsmärkte und Entrechtung der Beschäftigten wieder in die richtige Richtung. Unabhängig von der jeweiligen Definition in den einzelnen EU-Ländern, wer nun ein „Arbeitnehmer“ ist und wer nicht, gilt diese Richtlinie und die enthaltenen Mindeststandards für alle Arbeitenden, die pro Woche mindestens drei Stunden oder binnen vier Wochen hintereinander mindestens zwölf Stunden für einen Arbeitgeber arbeiten. Es ist also egal, ob es sich um Leiharbeitskräfte, PraktikantInnen, Crowdworker oder Freie DienstnehmerInnen handelt, die Mindeststandards müssen für alle Beschäftigten in ganz Europa innerhalb der nächsten drei Jahre umgesetzt werden.
Auswirkungen auf Österreich
Was ändert sich dadurch für uns in Österreich konkret? Ein wesentlicher Punkt ist zum Beispiel, dass auch PraktikantInnen zukünftig einen schriftlichen Vertrag beziehungsweise einen Dienstzettel über ihr Beschäftigungsverhältnis erhalten müssen und zwar schon am ersten Arbeitstag, nur in Ausnahmefällen innerhalb von sieben Tagen. Das Gleiche gilt für Crowdworker, die nun außerdem von Knebelverträgen befreit werden, wenn ihnen bisher von ihren AuftrageberInnen untersagt wurde, für andere Plattformen zu arbeiten. Außerdem zieht die Richtlinie indirekt auch bei Arbeit auf Abruf eine Grenze. Beschäftigte, deren Arbeitsverträge kein fixes Arbeitszeitausmaß enthalten und somit ständig dienstbereit auf ihre Arbeitseinsätze warten müssen, wie es beispielsweise in Großbritannien durch sogenannte „Null-Stunden-Verträge“ üblich ist, profitieren ebenfalls. Sie haben dadurch zumindest Anspruch auf einen Referenzzeitraum (beispielsweise Montag bis Freitag, von 8 bis 16 Uhr), der im Vertrag geregelt sein muss. Der Arbeitgeber muss sich so zumindest an einem Zeitrahmen orientieren und kann von Beschäftigten nicht mehr verlangen, rund um die Uhr unbezahlt auf Abruf bereit zu stehen.
Um dem Wucher an befristeten Arbeitsverträgen ohne Kündigungsschutz in der EU etwas entgegen zu setzen, muss befristet Beschäftigten und PraktikantInnen zukünftig die Möglichkeit eingeräumt werden, nach sechs Monaten ihren Arbeitgeber um einen „verlässlicheren und sichereren Arbeitsvertrag zu ersuchen“. Wenn der Arbeitgeber dies ablehnt, muss er dafür triftige Gründe geltend machen, warum es ihm nicht möglich ist, den/die BeschäftigteN unbefristet anzustellen. Das sollte auf Arbeitgeber wenigstens eine mahnende Wirkung haben. Und schließlich müssen laut der Richtlinie alle Weiterbildungsmaßnahmen und Schulungen, die Arbeitgeber von ihren Beschäftigten verlangen, vom Arbeitgeber selbst bezahlt werden und als Arbeitszeit verrechnet werden.
Die Länder und somit auch die österreichische Bundesregierung haben für die Umsetzung der neuen Vorgaben drei Jahre Zeit. Es bleibt zu hoffen, dass sie im Interesse der Beschäftigten nicht nur den Mindestansprüchen für sichere Arbeitsplätze nachkommen, sondern auch darüber hinaus aktiv werden. Dafür ist es höchste Zeit, denn auch in Österreich entwickelt sich atypische und prekäre Beschäftigung zunehmend zum Problem, das es ernst zu nehmen gilt!